Kapitel 1 – Der erste Tag

vom 24. November 2002 um 15:24 von Markus Slobodeaniuk

Ein Lichtstrahl bricht durch die Wolkendecke. Ein winziger Farbton im weitläufigen Grau, das den Himmel bedeckt und das Licht fernhält. Ein Grau, das sich über das gesamte Tal spannt – ein Tal inmitten steiler Berghänge. 

Der Lichtstrahl arbeitet sich tiefer. Die einzige Bewegung in völliger Stille. Stille, abgeschlossen von der dichten Wolkendecke, die gefangen scheint in diesem Tal. Die Seiten des Tales sind steiler, hellgrauer Fels, fast wie geschliffen stehen diese hohen Wände. Alle glatt, keine Erhebung, keine Zacken, keine Risse, nichts, dass dem Auge einen Ansatz bietet, monoton wie das Grau der Wolken darüber.

Der Lichtstrahl setzt seinen Weg zum Boden fort. Hinter ihm schließt sich die Wolkendecke wieder, ein kleiner Pfeil aus Farbe hat es in diesen Kessel aus trister Eintönigkeit geschafft. Der Talkessel ist fast geometrisch rund, nur an zwei gegenüberliegenden Seiten gibt es eine kleine Ausbuchtung.

Auf der einen Seite des Talkessels haben die Felsen Konturen angenommen, Stufen, Mauern, ja ein ganzes Gebäude scheint in den Stein gehauen zu sein. Dunkel thront es über dem Tal, denn die Felsen ändern hier ihre Farbe vom lichten Grau zu dunklem Schwarz. Wie eine Bedrohung wirkt das Gemäuer, zahllose Mauerseiten, unendlich viele Stufen bilden dieses Gebilde aus Stein. Auch dort ist keine Bewegung, majestätisch ruht das Schloss aus schwarzem Fels, drohend über dem Talkessel.

Der Lichtstrahl hat fast den Boden erreicht. Ein dünner Streifen in der klaren, stillen Luft. Kein Laut dringt durch das Tal, die völlige Stille wird nur von der Bewegung des Lichts gestört, das sich unaufhaltsam dem Boden des Talkessels nähert.

Gegenüber von dem schwarzen Schloss, in der zweiten Ausbuchtung des fast geometrischen Talkessels, ist der Fels völlig geglättet und hat eine kleine Plattform gebildet. Auch hier weicht das lichte Grau der Felswände einer anderen Farbe: die gesamte Plattform und auch die Felswand dahinter leuchtet in hellem Weiß. Das Licht ist kalt, nicht drohend wie das Gemäuer auf der anderen Seite, doch auch vor diesem Ort weicht das Auge des Betrachtenden zurück.

Der Lichtstrahl berührt nun gleich den Boden. Kurz vor der hellen Plattform wird er auftreffen. Der Boden des Talkessels ist unförmig. Während alle Wände glatt geschliffen sind, die Mauern des Schlosses und die Plattform wie geschnitten wirken, gleicht der Boden eher der Wolkendecke darüber. Auch der Boden scheint aus einer endlosen Zahl von kleinen Erhebungen zu bestehen, die von einem zähen, dunkelgrauen Material gebildet werden, das den Boden des Tales völlig bedeckt.

Die Spitze des Lichtstrahl trifft auf das graue, zähe Material. Direkt vor der hellen Plattform gesellt sich ein Ton Farbe auf den Boden. Das Licht streichelt behutsam über den Boden, fast als wollte es diesen nicht beschädigen.

Die Wolkendecke sieht geschlossen auf die Ereignisse am Boden herab. Der dünne Lichtstrahl kämpft sich komplett zu Boden, immer kürzer wird die Linie aus Farbe in dieser Umgebung aus Grautönen. Bald wird die winzige Menge der Unruhe wieder verschwunden sein, die Stille des Tales wieder vollkommen.

Doch das Licht hat Wirkung: der graue Boden beginnt sich zu bewegen, die eine Erhebung, die vom Licht getroffen wurde, wächst in die Höhe und weicht dem Licht aus. Ein kleines Stück des darrunterliegenden Talbodens wird sichtbar. Zerrissen ist dieser, winzige Klüfte zerteilen den festen Fels. Und in einer dieser Klüfte verschwindet der letzte Rest des Lichtstrahls.

Die Ruhe im Tal ist wieder perfekt, das Grau der Wolkendecke, die glatten Felsen, alles wirkt ruhig und still. Nur diese eine Erhebung kurz vor der weißen Plattform stört das Auge, dort wo der Boden des Talkessels sichtbar ist.

Der Lichtstrahl ist im zerklüfteten Felsboden verschwunden. Der Fels spiegelt die winzige Menge Licht und leitet diese tiefer hinunter. Dann erreicht das Licht eine gigantische Höhle, erfüllt von völliger Schwärze. Der Lichtstrahl zerbricht an einem Felsvorsprung aus Glas in zahllose kleine Schimmer, die sich auf die Wände legen, dann ist es wieder völlig dunkel.

Doch an den Wänden, wo der letzte Schimmer des Lichtstrahls einschlug, bildet sich dunkler Dampf, eine winzige Wolke entsteht und sucht den Weg hinauf. Überall sind die winzigen Felsspalten über der Höhle von dem grauen, zähen Material abgedichtet, nur an einer kleinen Stelle ist ein Durchkommen möglich. Dort sammelt sich die Wolke und erreicht das Innere des Talkessels.

Kaum ist der dunkle Dampf aus dem Boden entwichen, senkt sich die einzelne Erhebung auch wieder auf den Boden zurück. Der gesamte Talkessel ist an seinem Boden wieder von der grauen, zähen Masse bedeckt, die Stille wieder vollkommen.

Langsam treibt die kleine Wolke auf das schwarze Gemäuer am Rande des Talkessels zu, überwindet die unendlich vielen Stufen und verschwindet zwischen den zahllosen Mauerseiten im Inneren.

Die kleine Erhebung am Rande der hellen Plattform beginnt sich plötzlich wieder zu regen. Bewegung kommt in das dunkelgraue Etwas, Formen bilden sich an verschiedenen Seiten, ein Gesicht schält sich aus dem zähen Grau und blankes Entsetzen ist in ihm zu sehen. Dann öffnet sich der Mund und ein gellender Laut durchschneidet die Stille des Tales.

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